Mut zum Miteinander
Es gibt viel Kritik an sozialen Systemen und noch mehr an den damit verbundenen staatlichen Organisationen. Im Gespräch mit Ference Ullmann erfuhren wir sehr interessante Perspektiven und Visionen für die Zukunft von behinderten Menschen als selbstbestimmter Teil unserer Gesellschaft.
Veröffentlicht am: 22. November 2023 / Von / 1 Kommentar on Mut zum Miteinander / Lesedauer: 4,6 min / Ansichten: 249 /
Kategorien: Politik /

«Unseren behinderten Menschen fehlt es an Wertschätzung durch die Politik und einer damit verbundenen Sicherheit in der finanziellen Absicherung. Denn gerade diese wäre das Zeichen eines würdevollen Miteinanders in einer modernen Demokratie. Wir schaffen nicht einmal eine Integration und reden von Inklusion.», Ference Ullmann, Geschäftsführung ITA GmbH

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Wie beschreibst Du die aktuelle Situation behinderter Menschen in Österreich?

Zunächst ist es mir als Jurist, als Geschäftsführer einer Behinderteneinrichtung und als betroffener Vater nicht nachvollziehbar, dass es keine einheitliche Behinderten-Gesetzgebung auf Bundesebene in Österreich gibt. Pro Bundesland besteht ein eigenes Behindertengesetz (z. B. Steiermärkisches Behindertengesetz, Wiener Chancengleichheitsgesetz oder Niederösterreichisches Sozialhilfegesetz) mit unterschiedlichen Leistungen und Ansprüchen. So erhalten Menschen mit der gleichen Behinderung in den einzelnen Bundesländern unterschiedliche Leistungen. Österreich hat 2008 die UN-Behindertenrechtskonvention ratifiziert. Zur Umsetzung dieser Konvention hat Österreich eine umfassende nationale Strategie, den nationalen Aktionsplan beschlossen («NAP Behinderung I» 2012–2020) und verpflichtet sich, die in dieser Konvention verbrieften Rechte umzusetzen. Im Juli 2022 hat die Bundesregierung den «Nationalen Aktionsplan Behinderung 2022–2030» beschlossen. Allein wenn man den Zeitraum von 2008 bis 2030 betrachtet, wird einem klar, dass Papier geduldig ist. Ein weiterer Punkt, den ich anführen möchte, ist die fehlende sozialversicherungsrechtliche Absicherung von behinderten Menschen. Sie sind meistens bei den Eltern mitversichert, erhalten für ihren Besuch in einer Behinderteneinrichtung ein «Taschengeld» und kein Gehalt oder Lohn und haben somit keinen Pensionsanspruch. Ein Armutszeugnis für einen Sozialstaat wie Österreich, das zu einem der weltweit wohlhabendsten Länder zählt. Durch die COVID-19-Pandemie und den Krieg in der Ukraine fehlt es unseren behinderten Menschen zuletzt an Wertschätzung durch die Politik und einer damit verbundenen Sicherheit in der finanziellen Absicherung. Denn gerade diese wäre das Zeichen eines würdevollen Miteinanders in einer modernen Demokratie. Wir schaffen nicht einmal eine Integration und reden von Inklusion.

Wer wäre für eine Änderung zuständig?

Einerseits die Politik, andererseits jeder Einzelne von uns. Ich möchte zunächst auf die Politik eingehen, später dann auf den Einzelnen. Für eine bundeseinheitliche Regelung im Behindertenbereich ist in Österreich der National- und Bundesrat zuständig. Artikel 15 Abs. 1 Bundesverfassungsgesetz enthält eine Generalklausel zugunsten der Länder, die besagt, dass jene Angelegenheiten, die nicht ausdrücklich in die Gesetzgebung oder Vollziehung des Bundes übertragen sind, in die Zuständigkeit der Länder fallen. Hier müssten natürlich die Länder Kompetenzen abgeben. Es bestehen aber auch österreichweite gesetzliche Regelungen, die das Sozialministerium auf Bundesebene in Bezug auf berufliche Teilhabe sowie der Behindertengleichstellung koordiniert (z. B. Behinderteneinstellungsgesetz). Im Sinne der UN-Behindertenrechtskonvention muss endlich die Politik ihrem verpflichtenden Auftrag nachkommen. Geredet und evaluiert wurde genug! Es fehlen klare Strategien, Pläne zur Umsetzung, festgeschriebene Ziele und ein deutliches Bekenntnis zur Finanzierung.

«Wir müssen handeln, nicht diskutieren, den Menschen in den Mittelpunkt stellen und uns täglich die Frage stellen: Was kann ich anders, besser machen.», Ference Ullmann, Geschäftsführung ITA GmbH

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Was bietet die ITA GmbH, deren Geschäftsführer Du bist, an?

Die ITA GmbH ist Teil der gemeinnützigen Helga Keil-Bastendorff Privatstiftung. ITA steht für «Individualisierte Teil-Ausbildungen für junge Menschen mit Beeinträchtigungen». Wir sind eine staatliche anerkannte Schule mit Öffentlichkeitsrecht und zugleich eine anerkannte Behinderteneinrichtung durch das Land Wien und durch das Land Niederösterreich. Junge Menschen im Alter zwischen 15 und 26 Jahren werden zu qualifizierten Hilfskräften in verschiedenen Bereichen (z. B. Pferde-, Garten-, Küchenbereich) ausgebildet. So am Standort in Gänserndorf neben der «FIT-Schule» ein Pferdeeinstellbetrieb mit derzeit 32 Pferden, eine biologisch zertifizierte Biolandwirtschaft mit circa 12 Hektar Bewirtschaftungsfläche und einer Gewerbeküche. Hier lernt man die Theorie im Fachunterricht und wendet sie vor Ort in der Praxis an. Ziel ist, dass man entweder direkt oder durch weiterführende Maßnahmen und Qualifizierungen am Arbeitsleben teilnehmen kann. So gesehen sind wir nicht eine klassische Behinderteneinrichtung, sondern eine Aus- und Weiterbildungseinrichtung. Ergänzend bieten wir Wohnmöglichkeiten an.

Sind die Leistungen der ITA GmbH abgesichert?

Leider wird unser Modell über die Tagessätze der Fördergeber nicht abgedeckt, sodass eine Finanzierungslücke vorliegt. Wir sind gezwungen, Beiträge von den Eltern einzuheben. Zudem vergrößert sich aufgrund der massiven Teuerungen diese Finanzierungslücke, da die Fördergeber diese massiven Teuerungen nicht abdecken. Ich musste daher im Jahr 2023 Personaleinsparungen, Investitions- und Leistungskürzungen vornehmen, die bedauerlicherweise zu Lasten von Menschen mit Behinderungen gehen.

Du warst unlängst in Ägypten auf einer Studienreise. Die Sekem Holding ist ein soziales Unternehmen, das den Menschen in den Mittelpunkt stellt und die Gewinne in gemeinnützige Projekte investiert, damit eine ganzheitliche und nachhaltige gesellschaftliche Entwicklung gefördert wird. Was sind Deine wichtigsten Erfahrungen gewesen?

Es blieben für mich zwei sehr klare Aussagen am Ende der Studienreise übrig:

  1. Wir müssen handeln, nicht diskutieren und den Menschen in den Mittelpunkt stellen!
  2. Sich täglich die Frage stellen, was kann ich anders, besser machen!

In mehreren Vorträgen von sehr anerkannten Persönlichkeiten aus verschiedenen Bereichen (z. B. Otto Scharmer), ging klar hervor, dass jeder Einzelne von uns die Zukunft mitgestalten und dabei nicht auf die Politik warten soll. Die soziale Transformation zu einer besseren Welt -auch im Behindertenbereich – kann nur gelingen, wenn jeder von uns Verantwortung übernimmt und zu handeln beginnt. Ab einer kritischen Masse wird auch die Politik zum Handeln gezwungen. Daher freut es mich sehr, dass der Inklusionsverein SPECIAL PEOPLE initiativ geworden ist und genau diese Menschen unterstützen wird, die ihre Anforderungen umsetzen möchten und dabei vielfach allein gelassen werden. Mit solchen Initiativen beginnt die oben angesprochene soziale Transformation.
Mehr zu den Erkenntnissen aus Ägypten und zu meiner Arbeit für mehr Inklusion in unserer Gesellschaft werde ich bei einem Vortrag bei SPECIAL PEOPLE präsentieren.

Danke für das Gespräch.

Kommentare

  1. Peter Pichler 24. April 2025 at 18:41 - Reply

    Dieses Interview mit Ference Ullmann war eine wichtige Entscheidungshilfe den Inklusionsverein SPECIAL PEOPLE im Jahr 2023 zu gründen.

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