

«Wie schaffen wir es, eine neue Alltagskultur zu etablieren, die Menschen mit Behinderungen wertschätzt?» Raúl Aguayo-Krauthausen, Autor und Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit
Der Fortschritt ist ein integraler Bestandteil unseres Lebens, vergleichbar mit der Notwendigkeit der Luft zum Atmen. Die kontinuierliche Transformation unserer Gesellschaft stellt kein kurz- oder langfristiges Phänomen dar, sondern vielmehr eine ständige Begleitung während unserer gesamten Existenz. Es erscheint paradox, dass Teile unserer Gesellschaft erhebliche Schwierigkeiten haben, Veränderungen als positive Realität anzuerkennen, obwohl diese Entwicklung seit Anbeginn der Menschheitsgeschichte präsent ist. Während es vor einigen Jahren noch unvorstellbar war, dass kleine Einzelhandelsgeschäfte, die den täglichen Bedarf decken, verschwinden könnten oder dass Finanzsysteme zusammenbrechen würden, müssen wir heute feststellen, dass staatliche Institutionen keine absolute Sicherheit mehr gewährleisten. Die jüngste Vergangenheit hat uns gelehrt, dass es keine Institution mehr gibt, die gesellschaftliche Interessen uneingeschränkt vertritt. Stattdessen beobachten wir zunehmend die Vernachlässigung derer, die behaupten, dies zu tun. Andernfalls wäre es schwer zu erklären, wie plötzlich mehrere Systeme mit scheinbar unlösbaren Problemen konfrontiert sind. Ob es sich um das Gesundheitswesen, das Finanzsystem, das Bildungssystem oder das Sozialsystem handelt, nahezu täglich werden Nachrichten über den prekären Zustand dieser Bereiche verbreitet, für die Steuergelder aufgewendet werden. In Graz beispielsweise, wo die Volkspartei jahrzehntelang an der Macht war, wurde plötzlich eine kommunistische Partei an die Spitze der Stadtregierung gewählt. Solche Entscheidungen des Volkes können Politiker oft nicht nachvollziehen und erklären sich dann fassungslos und völlig erschrocken. Es ist unverkennbar, dass Strukturen aufgebrochen sind und die traditionelle Motivation von Parteimitgliedern nicht mehr in dem Maße greift wie in früheren Zeiten. Der Einfluss persönlicher Interessen auf die Verwendung öffentlicher Gelder wird zunehmend evident, was zu einem rapiden Vertrauensverlust in Regierungen führt. Somit kehrt die Forderung nach Transformation oder vielmehr nach einem von engagierten Bürgern initiierten und getragenen Fortschritt zurück in den Vordergrund.
Jetzt Inklusion
Es ist bemerkenswert, dass in der Geschichtslehre keine vergleichbare Thematik von derart globalem Ausmaß und Interesse überliefert ist. Obgleich die treibenden Kräfte globale Interessen oder eine fortschreitende empathische Entwicklung sein mögen, handelt es sich um ein Thema, das gegenwärtig von Bedeutung ist und unweigerlich unsere unmittelbare Zukunft beeinflussen wird.
Um die Inklusion in ihrer Gesamtheit zu erfassen, bedarf es mehr als bloßen Mitgefühls oder Hilfsbereitschaft, wenngleich diese Eigenschaften für ein inklusives Zusammenleben unerlässlich sind. Eine einseitige Betrachtung der Inklusion führt jedoch zu keiner Veränderung des Status quo, der durch die Trennung von Menschen in unterschiedlichen Systemen gekennzeichnet ist. Die derzeitigen praktikablen Ansätze werden angesichts der prognostizierten demografischen Entwicklung unserer Gesellschaft nicht mehr aufrechterhalten werden können. Es wird ein zunehmendes Ungleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben entstehen, da die Anzahl der Beitragszahler in das Sozialsystem sinkt und die Aufrechterhaltung der aktuellen Leistungen gefährdet. Dies betrifft vornehmlich die Versorgung der wachsenden Anzahl älterer Menschen in der Bevölkerung. Es ist denkbar, dass die Inklusion eine Strategie darstellt, um die Gesellschaft auf die Herausforderungen der Überalterung vorzubereiten. Sollte dies der Fall sein, so ist dies durchaus positiv zu bewerten, da wir uns der Problematik bewusst stellen und die darin liegenden Chancen erkennen sollten.
Inklusion ist Frieden
Im Anschluss an die sozialen Errungenschaften der 1970er-Jahre folgte eine Phase des ungezügelten Kapitalismus. Diese führte zum Abbau wesentlicher Bereiche der zuvor zukunftsweisenden Errungenschaften. Mit dem Versprechen von Wohlstand für alle wurde eine Politik verfolgt, deren tatsächliche Interessen jedoch fragwürdig erscheinen, da andernfalls die gegenwärtigen Problematiken nicht zu erklären wären. Diese rein auf die Bereicherung einer Minderheit ausgerichtete Orientierung steht nun im Kontext der Inklusion zur Debatte. Es gibt zahlreiche Gegenargumente, wie beispielsweise die gestiegene Lebenserwartung oder die Behauptung, es handle sich lediglich um Luxusprobleme. Genau darin liegt jedoch die Chance für eine offene Diskussion über die Zukunft. Inklusion bietet die Möglichkeit, Barrieren abzubauen und Menschen mit geistiger oder körperlicher Behinderung aus ihrer Isolation in die Gesellschaft zu integrieren.
Es reicht jedoch nicht aus, zu wenig zu tun. Es ist unerlässlich, alle Menschen einzubeziehen und auf dem gemeinsamen Weg mitzunehmen. Wie bereits einige Organisationen weltweit erkannt haben, ist es für einen solchen Weg notwendig, die gesamte Bevölkerung zu erreichen und nicht nur die unmittelbar Betroffenen. Denn welche Wirkung hat die Beseitigung von Barrieren für behinderte Menschen, wenn diese weiterhin in separierten Systemen abseits der Gesellschaft leben? Und wie löst dies das Finanzierungsproblem? Es dient lediglich dazu, das massive Finanzdefizit kommunikativ vorzubereiten.
Eine Chance für jeden Einzelnen
Die Inklusion hat eine Möglichkeit eröffnet, die allen Beteiligten Chancen bietet. Sowohl jenen, die durch Barrieren benachteiligt werden, als auch denjenigen, die unter der gegenwärtigen wirtschaftlich prekären Lage leiden. Die Entwicklung hin zu einer inklusiven Gesellschaft erfordert neben einer veränderten Haltung auch ein hohes Maß an Veränderungsbereitschaft in den wirtschaftlichen Strukturen.
«Wer Inklusion will, findet einen Weg. Wer sie nicht will, findet Ausreden.»
Raúl Aguayo-Krauthausen, Autor und Aktivist für Inklusion und Barrierefreiheit
Es sind alle Wirtschaftssektoren gefordert, in denen auch zukünftig ein Bedarf an menschlicher Arbeitskraft besteht, wie beispielsweise in der Produktion, dem Handel oder der Verwaltung. Wir sind gehalten, alle Menschen, einschließlich jener mit Behinderung, zu integrieren und unsere Auffassungen über das Altern entsprechend anzupassen, um eine inklusive Lebensweise zu gewährleisten und letztlich unseren fundamentalsten Wert in der Gesellschaft zu wahren: den Frieden. Sollten wir die mahnenden Anzeichen der Gegenwart und der Historie unbeachtet lassen, werden wir den Frieden erst nach seiner erneuten Zerstörung wiedererlangen. Dies wäre in höchstem Maße unklug, da wir somit keine Lehren aus der Vergangenheit gezogen hätten. Daher ist es von immenser Bedeutung, dass wir uns der Thematik der Inklusion angesichts der damit verbundenen komplexen Problemlage stellen. Die Zeit für Zögern, Überlegen und Abwägen ist verstrichen; wir müssen unverzüglich handeln. Die Zukunft nachfolgender Generationen ist von zu großer Tragweite, und die Sicherung des Friedens für eine möglichst große Anzahl von Menschen weltweit ist von essenzieller Bedeutung.
Das Tun im Fokus
Es ist demnach unerlässlich, unverzüglich zu handeln. Es gilt, von der Priorisierung persönlicher Belange abzusehen, welche lediglich als Rechtfertigung für Untätigkeit dienen, und stattdessen die Initiative zu ergreifen, um bisherige Versäumnisse durch adäquate Lösungen zu beheben. Wenngleich die Fokussierung auf individuelle Stärken und die aktive Beteiligung nicht im unmittelbaren Interesse der regierenden politischen Parteien liegen mag, so sollte dies uns nicht davon abhalten, das gegenwärtige System kritisch zu hinterfragen und nach ausstehenden Antworten zu suchen.
«Als Mitglied des Inklusionsvereins SPECIAL PEOPLE stellt Peter Pichler die Freiheit und Würde jedes Menschen vor die Ignoranz des Eigeninteresses. Alle, die Interesse an einer Mitarbeit bei SPECIAL PEOPLE haben, werden mit offenen Armen empfangen.»
Vielerorts stößt man auf Unverständnis, wenn man Menschen mit dem Thema Inklusion konfrontiert. Viele von ihnen befinden sich noch in der Phase, die Tragweite dieser Thematik vollständig zu erfassen, während andere sich nicht bereit zeigen, diesen Prozess zu unterstützen, da sie befürchten, dass er ihre Lebensgrundlage negativ beeinflussen könnte. Für Personen, die den aktuellen Lehrmeinungen bezüglich unseres Sozialsystems ausgesetzt sind, gestaltet es sich naturgemäß schwierig, anzuerkennen, dass ihr Handeln nur teilweise zielführend ist. Umso wichtiger ist es, alternative Lösungsansätze aufzuzeigen und Chancen deutlich zu machen. In Gesprächen mit sozialen Vereinen oder Unternehmen wird fast ausnahmslos als erste Frage nach den vorgesehenen Fördermitteln und den damit zu finanzierenden Dienstleistungen erkundigt. Man möchte demnach zunächst in Erfahrung bringen, ob ein Engagement als Wettbewerb zu betrachten ist und inwiefern dies gegebenenfalls die eigenen Einnahmequellen beeinträchtigen könnte. Im Falle von SPECIAL PEOPLE wurde vorerst von einer staatlichen Förderung abgesehen, da ein auf die Menschen ausgerichtetes Projekt sich primär nicht auf materielle Aspekte wie beispielsweise die Beschaffung von sanitären Anlagen konzentrieren sollte.
Wir wollen Inklusion
Um den Pfad der Inklusion zu beschreiten, ist ein offener und dezidierter Diskurs unerlässlich. Es bedarf Mitwirkender, die diesen Weg engagiert beschreiten und sich für grundlegende Werte wie Frieden, Freiheit und Gleichheit einsetzen. Die Eliminierung von Barrieren stellt einen integralen Bestandteil des Engagements dar, welches zur Verwirklichung eines inklusiven Lebens notwendig ist. Im Mittelpunkt müssen die Aufklärung und die Darlegung des Nutzens im Sinne einer breiten Bevölkerungsschicht stehen. Daher bin ich außerordentlich dankbar, dass dieser Beitrag dank der Unterstützung von SPECIAL PEOPLE den Weg an die Öffentlichkeit gefunden hat.